Online-Glossar Velotechnik von Christian Smolik |
Physikalische und manuelle Vorgänge beim Steuern eines Fahrrades, die im wesentlichen aus dem Wechselspiel der folgenden physikalischen Gegebenheiten resultieren: 1. Kreiselkräfte Nimmt man ein Vorderrad in die Hand, versetzt es in Drehung und neigt es nach rechts, so schwenkt das ganze Vorderrad automatisch ebenfalls nach rechts (analog sind die Verhältnisse natürlich zur linken Seite hin. Seine Ursache hat dieser für den Lenkvorgang elementare Effekt in den physikalischen Gesetzmäßigkeiten von Kreiseln: Diese sind starre, rotationssymmetrische Körper, die durch Drehung um die eigene Achse die Tendenz bekommen, diese Achslage zu stabilisieren und das umso mehr, je höher die Drehzahl wird, mit der der Kreisel rotiert. Wirken nun Äußere Kräfte auf den Kreisel, so weicht dieser mit einer sog. Präzessionsbewegung (von lat. "Vorrücken") der angreifenden Kraft aus. Im eingangs erwähnten Effekt bewirkt also die nach rechts kippende Kraft eine Drehung um die Hochachse nach rechts; s.a. > Kreiselkräfte. 2. Nachlauf Läuft der Aufstandspunkt eines Rades seiner Drehachse hinterher (so die Definition des > Nachlaufs), so wirken die Kreiselkräfte des Vorderrades mit einem Hebelarm in den Lenkvorgang ein. 3. Richtkraft Das hinter seiner Drehachse herlaufende Vorderrad bekommt duch den > Rollwiderstand (> Teewageneffekt) eine stabilisierende Kraftkomponente, die das Rad in Fahrtrichtung ausrichtet. 4. Fliehkraft Körper besitzen aufgrund ihrer > Masse das Bestreben, eine einmal eingeschlagene Bewegungsrichtung beizubehalten (Beharrungsvermögen oder Trägheit). Werden sie nun in eine Kurve oder Kreisbahn gezwungen, so versuchen sie, diesem Zwang mittels einer vom Mittelpunkt der Kurve oder Kreisbahn weg radial nach außen gerichteten Kraft - der > Fliehkraft - zu entfliehen, weitere Einzelheiten s.d. Gleichgewichtshaltung Beim Trachten des Radlers nach Bewahrung des Gleichgewichts während der Fahrt läuft das Wechselspiel der vorgenannten physikalischen Effekte nach folgendem Schema ab: Der Radler kann nicht ständig eine exakt senkrechte Haltung bewahren, sondern neigt sich mal ein wenig nach rechts oder links. Mit ihm neigt sich auch das durch Drehung zum Kreisel gewordene Vorderrad nach rechts und bewirkt über den Hebelarm des Nachlaufs - gedämpft von der Richtkraft - einen Lenkausschlag ebenfalls nach rechts. Aus der Geradeausfahrt wird nun eine Kurve nach rechts. Prompt wirkt die Fliekraft (Beharrung in Bewegungsrichtung) auf Rad und Fahrer und richtet beide wieder auf. Meist wirkt die Fliehkraft zu stark und beide neigen sich jetzt leicht nach links. Entsprechend erfolgt spontan ein Lenkausschlag nach links und eine Linkskurve, die "Roß und Reiter" wieder nach rechts neigen usw. Statt also beständig geradeaus zu fahren, vollführt der Radler in Wahrheit kleine, aneinandergereihte Kurven, fährt also im Grunde in Schlangenlinie, wenn auch zumeist minimal. Diese Vorgänge laufen übrigens automatisch ab, und der Radfahrer muß hauptsächlich nur dämpfend und leicht gegenregulierend ins Lenkgeschehen eingreifen, wie ja das Freihändigfahren zeigt. bei geringem Tempo Schwierig ist die Gleichgewichtshaltung bei sehr langsamer Fahrgeschwindigkeit (ca. Fußgängertempo), da hier die stabilisierende und regulierende Kraft des Vorderradkreisels noch zu wenig wirksam ist. Der Radfahrer muß daher die gleichgewichtserhaltenden Lenkausschläge verstärken, d.h. > übersteuern. Folge: starke Schlangenlinien. bei hohem Tempo Mit zunehmendem Tempo erhöht sich die stabilisierende Wirkung der Kreisel (wozu ja auch das Hinterrad gehört), was das Halten des Gleichgewicht vereinfacht, zudem wird auch die Richtkraft größer. Folge: Die Schlangenlinien glätten sich zunehmend. Bei sehr hohem Tempo ist die stabilisierende Wirkung der Kreisel dann so groß, daß zur Gleichgewichtshaltung kaum noch Lenkausschläge erforderlich sind. Der Radfahrer lenkt dann per Gewichtsverlagerung vorwiegend durch Schräglage Folgen: Die Abrollfläche des Reifens auf der Straße - bei Geradeausfahrt Teil eines Zylindermantes - wird in Bezug auf die Laufradachsen leicht kegelig. Und wie ein auf dem Boden gerollter Kegel eine Kreisbahn um sein spitzes Ende beschreibt, so rollt auch der Radler jetzt in einem Kreisbogen zu der Seite hin, zu welcher er sich neigt. Verglichen mit seinen Lenkausschlägen hat der Radfahrer hier eine Feinstregulierung zu Verfügung, da er seine Schräglage und damit seinen Kurvenradius genau dosieren kann. Unbedachte Lenkausschläge bei hohem Tempo können einen Radler dagegen regelrecht "von Bord fegen". Unterfahren des eigenen Schwerpunkts Eine weitere Eigenheit der Gleichgewichtshaltung beim einspurigen Zweirad ist das Unterfahren des eignen > Schwerpunktes: Wie beim Balancieren eines Besens auf dem Finger muß der Radler seinen Schwerpunkt stets genau über dem Aufstandpunkt der Reifen austarieren. Abweichungen muß er durch Unterwandern des Schwerpunktes zur jeweils anderen Seite hin kompensieren, was weitestgehend bei den eingangs beschriebenen Vorgängen des Wechselspiels von Kreiselkräften und Fliehkraft erfolgt. Soll aber die Richtung bewußt geändert werden, aus der Geradeausfahrt beispielsweise eine Kurve nach rechts erfolgen, ergeben sich folgende Sachverhalte: Mit einem Lenkausschlag nach rechts würde der Radfahrer in der folgenden Rechtskurve nach links kippen und müßte innerhalb der Kurve mit einer kleinen Linkskurve eine Gegenlenkaktion starten, was ihn aus der Kurve katapultieren könnte. Daher leitet er die Kurve zunächst mit einem kleinen Lenkausschlag nach links ein, um zunächst die zum Durchfahren der Kurve nötige Schräglage nach rechts zu bekommen. Dieses zum Unterfahren des eigenen Schwerpunktes nötige Gegenlenken ist übrigens eine der Schwierigkeiten, mit der Radfahranfänger zu kämpfen haben, bis sie automatisiert, also in Fleisch und Blut übergegangen ist. Weitere Informationen s. > Lenkkräfte; > Richtungskorrektur.
Online-Glossar Velotechnik von Christian Smolik |
Copyright und
redaktionelle Inhalte:
Dipl.Ing.FH Christian Smolik 18.05.2000
technische Umsetzung:
Dipl.Ing.FH Jörg Bucher zuletzt am 18.05.2000